Neue Psalmen

Neue Psalmen in dichterischer Sprache

2010/ 77 Psalmen

21
Du tanzest auf den Strahlen
der aufgehenden Sonne
hinein in den klaren Wassertropfen,
der noch am schmalen Blatt
der Blume hängt.
Du gleitest ins Lächeln
sanft erwachender Menschen,
dessen Träume wie Frühnebel
sich langsam auflösen.
Du stehst auf, mächtig und gross,
wie die hohen sich quellenden Wolkentürme,
die oben den Himmel berühren
und feurig glänzen.
Du lässt dich ins Blau fallen,
ins Blau der frohen Gedankenmeere,
ins Blau der immer ferner werdenden,
von Dir bewegten glücklichen Stunden.

29
Tanzender Gott,
der Himmel ist ein Teppich,
darauf hüpfst Du und drehst Dich
lachend und überschlägst Dich
mit allen Engeln. Vor Freude
über das Gelingen Deiner Schöpfung
wirst Du leicht und stimmst ein
in den jubelnden Klang.
Selbst in der springenden Welle,
im zitternden Blatt
und im schlafenden Tier klingst Du weiter.
Aber nachts, wenn der Mond verhüllt ist,
die Städte schlummern
und die Strassen in sich gekehrt sind,
führst Du deinen Tanz in mir weiter,
mein Herz schenkt Dir Raum
für ein weiteres Universum
Deines Lobgesangs.

37
Von Freude voll, über den Gipfeln
der Träume, am Himmel,
der ins Innerste der Seele reicht,
geht die Sonne auf.
Wege leuchten golden,
auf denen stille Engel wandeln
und mit ihren Flügeln leicht
die alten Bäume der Sehnsucht berühren.
Sie beginnen zu blühen
und wissen nicht, in welche Frucht
sie sanft hineingedrängt werden.
Was verstehe ich vom Glanz
an meinen Wimpern, wenn ich unverhofft,
mitten in einem Augenblick,
der mir belanglos scheint,
plötzlich Gott schaue
und dieses Bild mich langsam verwandelt
in eine dem Denken vorauseilende,
helle Gestalt.

58
Geometrie des göttlichen Willens,
wissen wir, wie die Stunden
ausgemessen sind? Was wird fruchtbar,
wenn eine Träne mitten in den Kreis
angespannter Erwartung fällt?
Kann ein unbedachter Augenblick plötzlich
die Fülle des Himmels enthalten?
Kann ein Kind aus unerwarteter
Empfängnis entspringen?
Der Engel, noch etwas zerstreut
von der langen Reise und nicht
mit der letzten Sorgfalt gekleidet,
kommt zu einer Frau und verspricht ihr,
sie solle den Höchsten gebären.
Ist nicht auch mein Schicksal
davon berührt, dass ich nun immer
durch das am Morgen erhellte
Fenster Ausschau halte
und Dich erwarte?

59
Ist nicht das Leben, von der Ewigkeit
aus betrachtet, noch kostbarer?
Ich stehe auf hohen, weissen Gipfeln,
die über die Zeit hinausragen
und schaue noch andere Gipfel
und Täler und Ebenen in der Ferne.
Der grosse Zusammenhang spannt sich
wie ein Bogen und umfasst
den kleinen Augenblick.
Dann steige ich hinab
und weiss, dass jeder Schritt
mit dem Mass der Sterne gemessen ist.
Unten, an meinem Haus mit den grünen Läden
und dem hell gestrichenen Eingang,
ist das ganze All befestigt,
damit es nicht ohne mich davon fliegt,
sondern sich lächelnd der Erde zuwendet.

Bilder von Marc Chagall

Copyright by Matthias Müller Kuhn